Wie aus "Normalen" Verrückte gemacht werden
Die in diesen Tagen neu aufgelegte Version des US-amerikanischen diagnostischen und statistischen Handbuchs
psychischer Störungen, hierzulande besser unter der Abkürzung
DSM-V bekannt, sorgt schon vor seiner Veröffentlichung für heftige Kritik.
Dabei wird insbesondere der Trend angegriffen, Verhaltensweisen als psychische Erkrankungen zu klassifizieren,
die bislang als normal galten. Besonders schwer ins Gewicht fällt das vernichtende Urteil über die neu definierten
Erkrankungen durch den renommierten amerikanischen Psychiater Allen Frances, der die letzte Ausgabe des DSM
federführend betreut hat.
Psychische Erkrankungen werden zum Regelfall
Frances befürchtet, dass die konsequente Anwendung des DSM-5 zur Folge haben wird, dass beinahe jedem Menschen
eine psychische Erkrankung attestiert wird. So gelten zum Beispiel Personen, die aufgrund des Verlustes eines
Angehörigen trauern, als gestört, wenn diese Phase länger als zwei Wochen andauert. Kinder, die trotzig oder
jähzornig auf Enttäuschungen reagieren, leiden dem neuen psychiatrischen Handbuch zu Folge unter einer
disruptivenLaunenfehlregulationsstörung. Dabei handelt es sich in beiden Fällen um völlig normale Verhaltensweisen,
die in keiner Hinsicht behandlungsbedürftig sind. Frances geht davon aus, dass sich diese und andere neue
Krankheitsbilder bald schon fest in den Arztpraxen etablieren und eine Flut von Verschreibungen von Psychopharmaka
auslösen werden.
Erschreckende Wirkung des DSM-IV
Dass dies tatsächlich so kommen wird, erscheint auch vor dem Hintergrund der Auswirkungen des
Vorgängerhandbuches, des DSM-IV, als sehr wahrscheinlich. Damals wurden die neuen Krankheitsbilder bipolare
Störung, ADHS sowie das Asperger Syndrom eingeführt. Seitdem werden diese vermeintlichen psychischen Erkrankungen
weltweit millionenfach diagnostiziert und mit Medikamenten intensiv behandelt.
Dabei wird weder auf deren bekannte Nebenwirkungen noch auf mögliche, bislang nicht erforschte Spätfolgen
Rücksicht genommen. Insbesondere Kinder, die in der Schule ein schwieriges, aber durchaus nicht ungewöhnliches
Verhalten zeigen, werden mit Psychopharmaka in unverantwortlicher Weise behandelt. Frances bestreitet in seiner
jüngsten Stellungnahme sogar, dass psychische Krankheiten überhaupt zuverlässig diagnostiziert werden können. Zum
Beleg dieser These führt er eindrucksvolle Beispiele an, wie zum Beispiel verschiedene Gutachten zur psychischen
Verfassung und Schuldfähigkeit von Straftätern. Regelmäßig kommen dabei verschiedene Psychiater zu ganz
unterschiedlichen Diagnosen.
Der Einfluss der Pharmaindustrie
In den USA nimmt jeder fünfte Bürger heute schon täglich ein Medikament
gegen psychische Störungen ein. Die Pharmaindustrie verdient an diesem gigantischen Verbrauch von Psychopharmaka
Milliarden. Die unnötige und schädliche Verordnung der Medikamente zur Stimmungsaufhellung, Linderung von
Depressionen und Bekämpfung von Verhaltensauffälligkeiten erfolgt in 80 Prozent der Fälle von Hausärzten.
Diese Mediziner besitzen weder die erforderliche Ausbildung noch das nötige Interesse, um sich angemessen mit
den psychischen Nöten ihrer Patienten auseinanderzusetzen.
Neben der gesundheitlichen Belastung durch überflüssige Psychopharmaka hat diese Praxis auch einen weiteren
Nachteil. Das Gesundheitssystem hat durch die Verschwendung von Ressourcen für unnötige Behandlungen nicht genügend
Gelder für die Therapie von Patienten, die tatsächlich unter schweren psychischen Erkrankungen leiden.
Da mit dieser Patientengruppe nicht viel Geld zu verdienen ist, hat auch die Pharmaindustrie wenig Interesse an
der Entwicklung und dem Vertrieb von speziellen Medikamenten für die Betroffenen.
Appell an Eltern und Ärzte
Frances fordert die Verantwortlichen eindringlich auf, besonders Kindern keine Psychopharmaka wegen
vermeintlicher psychischer Störungen zu verabreichen. Statt ihnen gesundheitsschädliche Medikamente zu geben,
sollte man ihnen vielmehr das Recht auf normales kindliches Verhalten zugestehen, das zum Beispiel auch
Wutausbrüche umfasst.
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