Altern
Das Geheimnis des Alters
Altern ist für die Wissenschaft bis heute immer noch ein Rätsel.
Man weiß von freien Radikalen, die bei Stoffwechselvorgängen entstehen, im Zigarettenrauch enthalten sind, durch
Umweltverschmutzung in die Atmosphäre freigesetzt werden, bei entzündlichen Prozessen im Gewebe entstehen, durch
ionisierende Strahlung und UV-Strahlung freigesetzt werden etc., dass diese Radikale einen entscheidenden
Negativ-Einfluss auf das Altern haben.
Aber wir altern auch ohne Einfluss der Radikale. Die Wissenschaftler vermuten, dass es eine biologische Uhr in
jedem Individuum gibt, die genetisch festlegt, wie alt dieses Individuum werden kann, unter Ausschaltung aller
negativen Einflüsse.
Diese Uhr scheint für den Homo sapiens ebenfalls einer Evolution zu unterliegen, denn die durchschnittliche
Lebenserwartung heute ist im Vergleich zum Mittelalter z.B. signifikant gestiegen.
Die moderne Medizin hat sicherlich einen entscheidenden Einfluss auf diesen Effekt. Es bleibt aber fragwürdig,
ob das die alleinige Erklärung ist, steigen die statistischen Lebenserwartungen langsam aber sicher ebenfalls in
der modernen Gesellschaft.
Bleibt die Frage:
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Welche Faktoren beeinflussen das Lebensalter einer Spezies?
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Welcher Faktor bestimmt bei einem alten, aber gesunden Individuum dessen
Lebensende?
Es gibt eine weitere interessante Frage: Mäuse, Ratten, Hamster etc. haben eine Lebenserwartung von zwei,
maximal drei Jahren. Nacktmullen dagegen können bis zu 28 Jahre alt werden. Wir wissen, dass auch Elefanten,
Grönlandwale, Schildkröten, Riesenschlangen etc. eine deutlich höhere Lebenserwartung haben, die mit der
Lebenserwartung des Menschen vergleichbar ist, teilweise diese sogar übertrifft.
Welches sind also die Mechanismen, die Mäuse so rasch und deren Verwandten, die Elefanten, deutlich langsamer
altern lassen?
Aus evolutionstheoretischer Sicht scheint es darauf eine (Teil-)Antwort zu geben.
Eine Großzahl von Tieren mit einer kurzen Lebenserwartung sind Beutetiere. Sie besitzen keine imposante
Körpergröße, Panzerschilde, spitze Stacheln oder sonstige effektive Defensivmechanismen, die für ein Überleben und
damit langes Leben unerlässlich sind.
Die Evolution sorgt für die Arterhaltung durch eine erhöhte Reproduktionsrate mittels einer frühen
Geschlechtsreife und erhöhten Wurfgrößen. Wer nicht gefressen wird, kann sich fortpflanzen. Wer im weiteren Verlauf
nicht gefressen wird, wird trotzdem nicht alt, weil es an artspezifischen Voraussetzungen fehlt, ein hohes Alter zu
erreichen. Die Evolution hat also beschlossen, dass es überflüssig sei, diese Arten mit einem soliden Immunsystem
und dezidierten zellulären Reparaturmechanismen auszurüsten.
Dieser Logik folgend könnte man annehmen, dass sich die natürliche Lebenserwartung der Beutetiere in
Lebensräumen ohne Feinde deutlich erhöhen müsste. Denn für die Evolution ist es unerheblich, ob die Art keine
Feinde hat aufgrund deren Fehlens oder aufgrund spezifischer schützender Charakteristika ihrer Individuen.
Steven Austad vom Barshop Institute Comparative Biology of Aging Center in San Antonio, Texas, USA ging dieser
Frage nach, indem er das typische Beutetier Opossum beobachtete.
Unter normalen Bedingungen wird dieses Tier, wenn es nicht schon viel früher seinen Feinden zum Opfer fällt, nur
etwa zwei Jahre alt. Auf der Insel Sapelo vor der Küste Georgias sieht der Sachverhalt deutlich anders aus. Hier
hat das Opossum keine Feinde. Deshalb kann es sich erlauben, tagsüber schlafend in der Sonne zu liegen. Die Tiere
flüchteten auch nicht vor Austad, sondern ließen sich von ihm berühren und sogar untersuchen. Austad konnte
berichten, dass die Insel-Opossums eine ca. 50 Prozent höhere Lebenserwartung haben, deren Würfe deutlich kleiner
sind und die Geschlechtsreife deutlich verzögert ist im Vergleich zu ihren Verwandten auf dem Festland.
Damit scheint Altern ein Prozess zu sein, der alles andere als statisch ist, sondern von Umweltfaktoren mit
geprägt zu werden scheint. Und die Opossum-Insel kann auch sinnbildlich verstanden werden: die „Insel“ einer Art
ist gleichzusetzen mit Schutz der Art und der Individuen.
Dieser Schutz kann sich darstellen als überdurchschnittliche Körpergröße, was die Zahl der natürlichen Feinde
deutlich reduziert. Der Schutz kann in einer Staatenbildung liegen, weil die Gemeinschaft schützende Eigenschaften
bietet. Dies wird eindrucksvoll demonstriert bei Bienen, wo die Königin, die nie ihr geschütztes Zuhause verlassen
muss (außer zum Hochzeitsflug) und von den Arbeiterinnen optimal versorgt wird, signifikant älter wird als die
Durchschnittsbiene.
Weitere effektive Schutz- oder Inselmechanismen sind Panzer, an unzugänglichen Orten leben, wie die Tiefsee,
giftig sein etc., was Schildkröten, Schlangen, Fröschen und anderen Tieren zu einer deutlich höheren
Lebenserwartung zu verhelfen scheint.
Am Beispiel der Nacktmulle scheinen sogar zwei Bedingungen eingetreten zu sein: Sie leben tief im Boden, an
einem relativ unzugänglichen Ort also, und in einer Gemeinschaft, die überraschende Ähnlichkeiten mit der der
Bienen aufweist in Sachen Organisation und Struktur. Denn bei den Nacktmullen gibt es eine Königin, die alleine
fruchtbar ist. Die anderen Mullen übernehmen, je nach Alter, Arbeiter- oder Soldatenaufgaben. Für den Kollegen von
Austad, den Molekularbiologen Andrej Podlutsky, sind diese Beobachtungen eine erste Antwort auf die Frage nach den
verschiedenen Lebensspannen. Für ihn gibt es diese Heterogenität der Lebenserwartungen, "weil ein Schutzmechanismus
existiert, der erst tätig werden kann - wie das Beispiel der Opossums bewiesen hat -, wenn Organismen lange genug
auf der sicheren Seite leben."
Wie sehen die weiteren Schritte aus, die es ermöglichen, hinter das Geheimnis des Alterns
zu kommen?
Laut Austad ist das Institut auf der Suche nach dem „besten tierischen Altersverhüter“ und den zellulären
Mechanismen, die die Zellen vor dem Altern schützen. Wenn der gefunden ist, wird das Genom untersucht auf die
spezifischen Merkmale, die diesen Schutz bewirken.
Danach sollen diese in das Genom von Kurzlebigen eingeschleust werden, um die Abwehr zu verbessern und eine
längere Überlebenszeit zu erreichen.
Auf labortechnischer Ebene ist diese Vorgehensweise durchaus denkbar. Es lassen sich die Reaktionen von
genommanipulierten Zellen beobachten unter normalen Bedingungen und Stresssituationen und daraus entsprechende
Schlüsse ziehen.
Ob wir damit auch in der Lage sind, Einfluss auf die Altersevolution des Menschen nehmen zu können, bleibt im
Augenblick noch fraglich.
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